Die Schwangerschaft mit ihren körperlichen, emotionalen und geistigen Veränderungen stellt eine neue und tiefgreifende Erfahrung im Leben einer Frau dar. Ganz gleich, ob es sich dabei um die erste oder etwa fünfte Schwangerschaft handelt:
Das Wunder der Schöpfung eines neuen Lebewesens wird immer wieder als neu und einzigartig empfunden und der Wunsch, diese Zeit möglichst bewusst und in einem guten körperlichen und geistig-seelischen Zustand zu erleben, ist völlig natürlich. Stellt doch gerade die Schwangerschaft große Anforderungen an Körper, Seele und Geist und macht bewusst, wie eng diese miteinander verbunden sind, und dass sie sich gegenseitig beeinflussen. Erfährt man schon unter sogenannten „normalen Umständen" wie sehr das körperliche Befinden Gefühle und Denken beeinflusst, so ist diese Empfindung während der Schwangerschaft noch um ein Vielfaches verstärkt. Die hormonelle Veränderung in den ersten drei Monaten beeinflusst das Gefühlsleben und löst oft starke emotionale Schwankungen aus, die von „himmelhochjauchzend" bis „zu Tode betrübt" reichen können.
Hinzu kommt, dass sich durch die Energie des entstehenden Kindes die gesamte sinnliche Wahrnehmung äußerst intensiviert und verfeinert. Man könnte den Eindruck gewinnen, die werdende Mutter sieht, hört, schmeckt und riecht mit den feinen Sinnen ihres sich entwickelnden Kindes. Diese ganz neue Sensibilität im Gefühls- und Sinnesbereich zu verarbeiten, beansprucht die körperlichen und geistig-seelischen Kräfte in erhöhtem Maße.
Es kann sein, dass Sie sich besonders in den ersten drei Monaten müde und unausgeglichen oder nervlich überfordert fühlen. Das Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und Stabilität ist jetzt besonders stark ausgeprägt, und man sollte ihm soweit als möglich auch nachkommen. Alles, was übermäßig anstrengt, ermüdet oder aufregt sollte vermieden werden. Andererseits ist aber ein gezieltes körperliches und geistiges Training gerade während der Schwangerschaft unerlässlich und trägt außerordentlich zum Wohlbefinden bei. Es versetzt Sie außerdem in die Lage, sich auf die bevorstehende Geburt vorzubereiten und Ihre Kräfte gezielt einzusetzen, um so bewusst wie möglich dabei mitzuarbeiten.
Hier bietet sich die Praxis des Hatha-Yoga als geradezu ideal an. Das Wort Hatha-Yoga stammt aus dem alt-indischen Sanskrit. Yoga bedeutet das Anschirren, Anjochen, aber auch die Verbindung und Vereinigung, was auf zweierlei Arten verstanden werden kann. Zum einen meint es das Anschirren und Anjochen der Gedanken im Sinne einer geistigen Selbstdisziplin, zum anderen ist die Verbindung und Vereinigung mit Gott, unserem Ursprung und unserem eigenen wahren Selbst gemeint. Hatha setzt sich zusammen aus „ha" = die Sonne und „tha" = der Mond, die Symbole für das männliche und weibliche Prinzip der menschlichen Psyche und die positiven und negativen Energieströme innerhalb des menschlichen Körpers. Diese beiden Energien müssen geeint werden, um ein vollkommenes Gleichgewicht herzustellen und zu einer neuen, tragfähigen Ganzheit zu finden.
Im traditionellen indischen Yoga ist der Hatha-Yoga die Grundstufe, die Körperhaltungen (Asanas), Entspannungs-, Atem- und teilweise Meditationstechniken umfasst. Das Ziel ist die Durchgeistigung, Durchlässigkeit und das völlige Bewusstwerden des Körpers als Voraussetzung für den weiterführenden Raja-Yoga, der in der Erkenntnis und Erfahrung des Einheitsbewusstseins mit dem göttlichen Selbst mündet. (Auf diese weiterführenden Yoga-Disziplinen kann innerhalb des Buches nicht weiter eingegangen werden, da es seinen Rahmen bei weitem sprengen würde und für unser Thema letztlich auch nicht so wichtig ist.) Asanas, Atem-, Entspannungs- und Meditationsübungen sind in diesem Buch bewusst so gehalten, dass sie keine Yoga-Praxis voraussetzen und sowohl von Anfängern als auch von Fortgeschrittenen ausgeübt werden können. Für die Schwangerschaft ist der Hatha-Yoga gerade deshalb so gut geeignet, weil er durch die Arbeit am Körper den ganzen Menschen, also Körper, Geist und Seele erfasst und entwickelt. Fast alle bekannten Übungen zur Geburtsvorbereitung basieren auf den jahrtausendealten Yogaübungen, den Atem- und Entspannungstechniken. Die Asanas werden langsam, sanft und rhythmisch ausgeführt und ohne Anstrengung, völlig entspannt eingenommen. Jegliches Leistungsprinzip entfällt hier. Die Aufmerksamkeit der Übenden ist ganz nach innen gerichtet, um den eigenen Körper bewusst kennen und fühlen zu lernen. Besonderer Wert wird auf das Erlernen der „Entspannung in der Spannung" gelegt, was eine spezielle Form der Geburtsvorbereitung darstellt und der werdenden Mutter hilft, trotz höchster Anspannung der Gebärmutter während der Geburt den übrigen Körper entspannt zu halten.
Durch das Dehnen und Strecken der einzelnen Muskelgruppen werden diese elastisch und weich. Verspannungen lösen sich, wodurch vermehrt Energie frei wird und der Lebensstrom ungehindert fließen kann. Die feinstofflichen Kraftzentren, auch Chakras genannt, werden aktiviert und harmonisiert, was sich unter anderem durch größere geistige Klarheit, seelische Stabilität und stärkere Nervenkraft bemerkbar macht.
Die Organe, die während der Schwangerschaft vermehrte Arbeit zu leisten haben, werden gut durchblutet und massiert. Ebenso werden Wirbelsäule, Bänder und Sehnen, die mit dem zunehmenden Gewicht des wachsenden Kindes stärker beansprucht sind, gedehnt und gekräftigt.
Durch Atemübungen, Tiefenentspannung und Meditation wird die neue Sensibilität unterstützt und gleichzeitig die Gefühle stabilisiert. Das bewusste „Loslassen" wird erlernt, was, verbunden mit der richtigen Atmung, während der ganzen Schwangerschaft - besonders aber bei der Geburt - eine große Hilfe darstellt. Alles in allem wird die Praxis des Hatha-Yoga der werdenden Mutter helfen, Schwangerschaft und Geburt als eine erfüllte und bewusste Zeit des inneren Wachstums und der Vervollkommnung zu erleben, was sich ebenso positiv auf ihr Baby als auch auf ihre unmittelbare Umgebung auswirken wird.
TEIL 1 Yoga ist mehr als Gymnastik TEIL 2 Die Praxis des Yoga
TEIL 3 Übungsteil
TEIL 4 Die natürliche und
sanfte Geburt
TEIL 5 Nach der Geburt
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Übungen, die speziell auf die Zeit danach abgestimmt sind, helfen der jungen Mutter, bald wieder „in Form" zu kommen.
Verena Bolesta-Hahn ist Yoga-Lehrerin mit langjähriger Praxis. Sie gibt Yoga-Kurse für Schwangere.