DIE ERSTEN NEUN MONATE DES LEBENS
Nachwort
Wir haben viele gute Gründe, unseren Lebensgang vom Tage der Geburt zu datieren, vom Tag, an dem wir das erste große Wunder erleben: das Licht der Welt. Wir wollen die Worte nicht leichthin nehmen. Das Licht der Welt ist das erste Wunder und bleibt es zeitlebens. Die Erfahrung der Helle des Tages und des Reichtums der Farben ist für alle ein Geheimnis, und je mehr die Forschung von den Geschehnissen erfährt, die wir Menschen als Licht erleben, je mehr wir auch vom Bau und Wirken der Augen und der Nervenorgane wissen, desto gewaltiger ist das Geheimnis des Bewusstseins von Licht und Farbe vor uns.
Mit dem Tag, da wir in dieses helle Reich eintreten, wird das Dunkel, das den werdenden Menschen bisher umfangen und beschützt hat, zu etwas Neuem, Besonderem. Der Gegensatz zum erregenden lichten Tag gibt für unser ganzes Leben der Nacht den besonderen Sinn einer Heimkehr, der innigsten Geborgenheit in einem Mutterschoß, im wiedergefundenen Urgrund unseres Seins. Dass diese Zeit im Mutterleibe nicht ein stummes Wachsen und Ausformen ist, sondern bereits eine Zeit lebendiger Fühlung mit der besonderen Umwelt im Leib der Mutter - das hat Geraldine Lux Flanagan in diesem Buche in vorbildlicher Klarheit und Sachlichkeit dargetan. Dasselbe bezeugt die Bilderfolge, die das Ergebnis unerhörter Forschermühe und -hingäbe in vielen Ländern ist.
Der Leser, der in dieser klaren Darstellung das wunderbare Geschehen unseres individuellen Werdens miterlebt, darf der Führung vertrauen. Denn hinter der einfachen, jedem verständlichen Beschreibung steht eine ausgedehnte Umschau der Verfasserin im weiten Feld, auf dem Biologie und Medizin gemeinsam die menschliche Entwicklung erforschen.
Mancher Irrtum wird richtiggestellt. So finden wir eine ausgezeichnete Korrektur der so weit verbreiteten Formel, der Mensch durchlaufe in seiner Entwicklung die Etappen der Evolution höherer Wirbeltiere, eine Fischstufe, einen Reptilien- und einen Affenzustand. Die Wirklichkeit wird von der Verfasserin treffend gekennzeichnet, indem sie diese Ähnlichkeiten auf wichtige allgemeine Baugesetze des Tierkörpers zurückführt.
Zur Zeit, als dieses Buch geschrieben wurde, sind in Europa jene schweren Missbildungen bei Kindern im Mutterleibe geschehen, die uns auf neue Gefahren der Biotechnik in so erschütternder Weise hingewiesen haben. Das Buch ist unmittelbar vor diesem alarmierenden Geschehen gedruckt worden — um so mehr möchte ich hervorheben, wie klar und mit wie tiefem Ernst in diesem Werk die besondere Gefährdung betont wird, die im zweiten Monat die Entwicklung des Keims bedroht - in einer Zeit, in der über wichtige Züge unserer artgemäßen Entwicklung entschieden wird und wo daher Einflüsse von außen besonders stark einzuwirken vermögen.
Das Werk schließt mit der Geburt. Für den Biologen aber stellt der Geburtsmoment eine Reihe von Fragen, die diesen besonderen Augenblick unseres Daseins in größeren Zusammenhängen erscheinen lassen, in Beziehungen, die für das Verständnis unserer ganzen menschlichen Eigenart entscheidend sind.
Wir kennen alle die hilflosen jungen Amseln, die neugeborenen Hunde und Katzen, aber auch den Gegensatz: das Entchen oder Küken, das Kälbchen, das Füllen, die alle so früh schon springlebendig sind. Nesthocker und Nestflüchter, damit haben wir zwei extrem verschiedene Geburtszustände genannt, die jedem vertraut sind. Wenn man den neugeborenen Menschen mit diesen Tierkindern vergleichen soll — was erscheint selbstverständlicher, als dass er zu den Nesthockern gehört!
Das scheinbar Selbstverständliche immer wieder zu prüfen, ist eine der Aufgaben der Naturforschung. Sehen wir also unseren Geburtszustand näher an. Gewiss sind wir am Lebensanfang eine Art von Nesthockern. Und doch, wenn wir genauer hinschauen, stimmt manches nicht mit dem Nesthockerbild überein, das uns manche Vögel und Säuger bieten. Unsere Augen sind bei der Geburt schon offen, die Sinne bereits recht wach und bereit, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Das ist bei keinem der echten Nesthocker so; sie haben alle völlig verschlossene Augenlider, völlig verwachsene Ohröffnungen, ja oft ist sogar die Ohrmuschel nach vorn umgelegt und mit der Haut verwachsen als ein weiterer Schutz für das zarte innere Organ, das ja noch in voller Entwicklung ist.
Der Geburtszustand unserer Sinnesorgane entspricht weitgehend dem der Nestflüchter unter den Säugetieren! Wenn wir das recht beachten, wird eine andere wenig beachtete Einzelheit auf einmal bedeutungsvoll: im Mutterleib, als wir etwa zwei Monate alt waren, hat jeder von uns ein Stadium durchlaufen, in dem Augen und Ohren durch Verwachsen der Lider und des Gehörganges genauso verschlossen wurden, als wären wir Nesthocker, die sehr früh geboren werden sollten. Denn das ist ja der Zustand, in dem wir in die Welt gesetzt würden, wenn wir rechte kleine Säugetiere von jener Art wären, wie junge Igel, Murmeltiere, Eichhörnchen oder Marder. Doch über unser Geschick ist anders verfügt: wir sollen noch lange Monate in der Geborgenheit des Mutterleibes bleiben.
Unsere Sinnesorgane aber verhalten sich so, als wären wir damals, nach dem zweiten Monat, geboren worden und sollten bald in der Welt draußen Auge und Ohr gebrauchen. Augen und Ohren öffnen sich im Mutterleib lange vor der Geburt wie bei allen höheren Säugetieren. Das Menschenkind tritt schon im fünften Monat in diese zweite Etappe seiner Entwicklung ein; es ist auf dem Weg zu einem Geburtszustand, wie er für sämtliche hochentwickelte Säugetiere kennzeichnend ist.
Wir sind also auf dem besten Weg zum Nestflüchter. Nur wenn wir uns diesen Umstand vor Augen halten, vermögen wir die Eigenart der menschlichen Entwicklungsweise richtig zu sehen. Wir wollen darum diese Sonderbildung noch genauer zu erfassen suchen. Dazu hilft uns ein theoretisches Experiment: wir konstruieren auf Grund vieler zoologischer Erfahrungen den Geburtszustand eines Tiermenschen. Wir können errechnen, wie ein Menschenkind beschaffen sein müsste, wenn es als ein vollwertiges Säugetier zur Welt käme; wir vermögen recht genau zu bestimmen, wie lange die Entwicklung im Mutterleib dauern müsste, bis ein solcher echter Tiermensch ausgetragen wäre. Die Mütter müssten sich freilich auf eine beträchtliche zusätzliche Leistung gefasst machen, müsste doch das Menschenkind etwa ein Jahr über die uns zugemessene Zeit im Mutterleibe bleiben. Nach insgesamt zwanzig bis zweiundzwanzig Monaten käme es endlich zur Welt, nun aber bereits des Stehens und Gehens fähig, versehen mit einem Gehirn, das bis zur vollen Größe nur noch etwa um ein Drittel seiner Masse zunehmen müsste. Das wäre die echte Nestflüchter-Entwicklung eines vollen Säugetierwesens. Aber so sind wir gerade nicht! Am Modell dieser Tiermenschen-Entwicklung messen wir unsere Eigenart.
Wohl kommen wir viel später zur Welt als ein echter Nesthocker, aber doch viel früher als ein unserem Säugerrang entsprechender Nestflüchter. Unser ganzes erstes Lebensjahr wird dadurch zu etwas Besonderem - es ist menschliche Eigenart. Wir werden etwa ein Jahr früher zur Welt gebracht, als es einer Säugerform mit unserer Wuchsweise und unserer Gehirngröße gemäß wäre.
Bedenken wir diese Eigenart unseres Entwicklungsganges, so rückt eine Tatsache in ein neues Licht, die seit mehr als einem halben Jahrhundert der Forschung bekannt ist. 1903 hat der Kinderarzt E. von Lange darauf hingewiesen, dass unsere Wuchsweise im ganzen ersten Jahr nach der Geburt <embryonal> sei, also so verlaufe, als wären wir noch im Mutterkörper. Seine Feststellung ist kaum beachtet worden. Auch dass der amerikanische Anthropologe R. Scammon 1922 dieselbe Tatsache wieder hervorgehoben hat, änderte nicht viel. Heute aber finden wir in dieser Wuchsweise einen Sinn: sie ist eines jener Merkmale, die sich nach echter Säugerart entwickeln und sich nicht nach unserer frühen Geburt richten. Übrigens ist auch unsere Muttermilch in ihrer Zusammensetzung eine echte Nestflüchter-Milch - sehr deutlich anders als die echter Nesthocker.
Wollen wir das Besondere der menschlichen Entwicklung möglichst drastisch erfassen, so müssen wir also unsere Ausformung bis zum Ende des ersten Jahres als <embryonal> beurteilen. Freilich handelt es sich um eine Embryonalzeit in einem neuen, besonderen Mutterschoß. Die erste Periode — die unser Buch darstellt — verläuft in der Geborgenheit, im Dunkel, in der Wärme des mütterlichen Leibes - in der zweiten Hälfte aber Mus das Heim und die soziale Gruppe Sicherheit, Wärme und Nahrung bieten. Das Zusammensein dieser Gruppe, der Mutter und der Familie, muss einen neuen, sozialen Mutterschoß schaffen; damit entsteht eine Aufgabe der Gesellschaft, die nicht bedeutungsvoll genug gesehen werden kann.
Ist nun diese Frühgeburt ein sonderbarer Zufall, den wir hinnehmen müssten, ohne mehr dahinter zu suchen - oder vermögen wir in dieser menschlichen Eigenart einen Sinn zu sehen? Ich glaube: ja!
Nehmen wir das Entscheidende vorweg! In das <Erstjahr>, das Jahr, um das wir — gemessen an Säugetiernormen — zu früh zur Welt kommen, fallen Geschehnisse, die für das Werden jedes Menschen entscheidend sind: die Ausbildung des Stehens, des Sprechens und des einsichtigen, denkenden Tuns. Diese drei wichtigen menschlichen Eigenschaften formen sich nicht nur gleichzeitig, sie entstehen auch auffällig gleichartig. Die Anlagen machen sich als erbliche Triebe bemerkbar, als unausgeformter, offener Drang zum Handeln, zum Aufrichten, zum Formen von Lauten und Tönen. Und noch etwas ist bei allen diesen Anlagen gleich: sie alle benötigen die Hilfe der Mitmenschen, die stete Aufforderung zum Tun, das dauernde Vorbild der Familie, die unablässige Hilfsbereitschaft zum Mit- und Vorsprechen, zum Aufsitzen, Stehen und Gehen, zum richtigen Tun und Denken. Die engste Sozialwelt des Kleinkindes ist, wenn sie vollwertig ist, eine reiche Quelle von Förderung. Mehr als das: dieses soziale Mittun, die Gegenseitigkeit von Gruppe und Kind ist die notwendige Voraussetzung des Gelingens. Volle Menschlichkeit ist ein Werk der Gesellschaft. Nur in der Gruppe wird und ist der Mensch ganz Mensch. Das sagt nun freilich nicht, die Gruppe sei das Entscheidende und der Einzelne ein auswechselbares Stück; denn auch die Gruppe ist nur vollwertig human, wenn die einzelnen Individuen ihre optimale Ausformung verwirklichen können.
Wir fragten uns, ob die Eigenart unseres Frühzustandes eine zufällige Einzelheit sei oder ob sie in einer tieferen Beziehung verstanden werden könne. Dazu müssen wir noch etwas weiter um uns blicken.
Es gehört zu den entscheidenden Wendungen der gegenwärtigen Forschung am Menschen, dass sie die Notwendigkeit erkannt hat, eine umfassende Vorstellung von der menschlichen Daseinsform zu entwickeln, in diese besondere Seinsweise den besonderen Entwicklungsgang einzugliedern und deren Deutung seiner Eigenart zu versuchen. Die Darstellung der menschlichen Seinsweise darf sich nicht auf einen Teil des Menschlichen beschränken, sie muss das Ganze zu sehen trachten. Nur die weiteste Auffassung vom Humanen kann das Bezugssystem für die Deutung der Entwicklungstatsachen geben. Versuchen wir also, die entscheidenden Züge dieses Menschenbildes herauszuheben.
Der Mensch, dessen Entwicklungsgang wir in seinen Einzelheiten deuten wollen, erscheint uns als eine Lebensform von einer besonderen Art des Welterlebens mit einer ererbten Struktur der Zuwendung zur Umgebung, die, wie man etwa gesagt hat, weil <weltoffen> ist und nicht, wie die meisten tierischen Verhaltensweisen, recht eng fixiert durch erblich gegebene Schema (a, Auslöser und andere Bedeutungsträger. Unsere Weltoffenheit äußert sich auch darin, dass sie einer stetigen Repräsentation des nicht Gegenwärtigen fähig ist. In unseren Vorstellungen wirkt die Vergangenheit wie die Zukunft, in die hinein wir planen, wirken auch die räumlich nicht anwesenden Aspekte, die <Rückseiten> oder <Innenseiten> der Dinge ständig mit. Diese menschliche Daseinsform ist auch dadurch gekennzeichnet, dass sie, was wir von keinem Tier kennen, einen Standort der Betrachtung beziehen kann, von dem aus die eigene Seinsweise zum Objekt der Untersuchung wird. Wir können in einem wahren Sinn des Wortes <außer uns> sein, uns selbst gegenübertreten, unsere subjektive Seinsweise zum Objekt der Betrachtung machen. Alle diese Züge des Humanen müssen uns vor Augen stehen, wenn wir die Sonderart der menschlichen Entwicklung deuten und die Forderung, die jedes Heranwachsen und Reifen an die Gemeinschaft stellt, verstehen wollen.
Die eigenartige Ausformung ererbter Anlagen, deren Ausprägung im Kontakt mit der Sozialwelt, fordert als Voraussetzung für ein volles Gelingen eine lange Zeit des Erfahrens und Übens komplizierter Beziehungen. Erst die Einsicht in diese Notwendigkeit macht es möglich, die außergewöhnliche Verlängerung von Kindheit und Jugend, die den Menschen charakterisiert, als sinnvoll zu verstehen, ohne in die Deutungen zu verfallen, die nur ganz allgemein von Verlangsamung sprechen und damit — mehr oder weniger ausgesprochen - Störungen des steuernden hormonalen Systems meinen, wobei ein rascher tierischer Entwicklungsgang als die Norm des höheren Lebens gewertet wird. Wir erkennen in dieser ungewöhnlichen Langsamkeit die natürliche Voraussetzung für die Künstlichkeit unseres ganzen Sozialsystems — wobei wir <Künstlichkeit> als unvermeidlich, als unsere <zweite Natur> auffassen. Einer solchen Vorstellung vom Menschen und seinem Werden erscheint die Eingliederung der biologischen Strukturen, durch die eine Verlängerung der Jugendzeit gesichert wird, als ein besonders wesentlicher Prozess der Menschwerdung.
Wer die Notwendigkeit einsieht, alle diese Weisen der Weltbeziehung in langen Übungs- und Reifungszeiten zu proben, zu entwickeln und zu festigen, der wird auch zu einer objektiveren Beurteilung der Sonderstellung der langen Kindheits- und Jugendjahre gelangen. Er wird einsehen, dass der geistige Reichtum, die Möglichkeiten einer Gesellschaft davon abhängen, ob in den Heranwachsenden in optimaler Weise die Entwicklung und Übung aller Aspekte des Welterlebens und des Gestaltens gefördert worden sind - ob der Sinn dieser langen Entwicklungsphase erfasst oder verfehlt wird.
Die Jahre unserer Kindheit erfüllen ihre Aufgabe der Vorbereitung des reifen Lebens nur dann, wenn sie als die notwendig eigenartige und notwendig lange freie Zeit der Übernahme des ganzen Traditionsgutes erfasst werden.
Die Einsicht in die Bedeutung des ersten Lebensjahres stellt auch der Erziehung ihre besonderen Probleme. Vor allem zeigt sie, dass die gewissenhafte Verbesserung der hygienischen Bedingungen des Säuglingsalters keineswegs genügt, um eine volle Entwicklung zu sichern. Auch das raffinierteste Studium der Ernährung ist nur ein Glied in einem großen Kreis von Faktoren, welche zusammenwirken müssen, um eine vollwertige Ausformung des Neugeborenen zu garantieren. Es ist eine der wichtigsten Entdeckungen der Humanbiologie unserer Zeit, dass sie die zentrale Rolle des vollwertigen Sozialkontaktes für die Ausformung der menschlichen Eigenart gezeigt hat. Die Überprüfung der älteren Darstellungen Pfaundlers über Pflegeschäden, die er seinerzeit als <Hospitalitis> beschrieben hat (1915), durch R. Spitz und K. Wolf (seit 1947), sowie neue Beobachtungen durch Jenny Aubry (1955) haben deutlich gezeigt, in welchem Ausmaß das psychische und körperliche Gedeihen des Säuglings im ersten Jahr als eine unteilbare Einheit betrachtet werden muss. Dieselben Untersuchungen bezeugen auch, dass so ausgesprochen körperliche Eigenheiten der Entwicklung wie etwa die Gewichtskurve in hohem Maße Ausdruck der normalen Ausbildung des Gefühlslebens und des Sozialkontaktes sind. Das kleine Menschenwesen wendet in einer Zeit, wo seine rationalen, intellektuellen Fähigkeiten erst keimhaft am Werke sind, die Macht seiner intuitiven Möglichkeiten, die ganze Kraft seines Gefühlslebens auf die umgebende Sozialwelt. Diese gefühlsstarke Zuwendung ist, wenn sie wirklich ihr Ziel erreichen soll, der entsprechenden Antwort durch die soziale Gruppe bedürftig, mag diese Sozialwelt auch nur durch einen einzigen Menschen verkörpert sein. Die Zuwendungskraft des Kindes fordert die Gegenleistung. Die Beziehung von Kind und Gruppe ist durchaus vergleichbar der Instinktverschränkung, welche Jungtiere und Eltern zu einer Einheit zusammenbindet, nur dass die verschränkende Struktur dieses überindividuellen Ganzen im Fall des Menschen qualitativ sehr viel reicher sein muss. Zuwendung in einer administrativen), lauen Weise, als eine bloße Erledigung mehr oder weniger lästiger Pflichten, wird vom Kind unfehlbar in ihrer Dürftigkeit taxiert und lässt im Gefühlsleben des werdenden Wesens ein Unbehagen aufkommen, das sich sehr rasch im Verfall der ganzen Entwicklung äußert. Was der Säugling in diesen entscheidenden Monaten des ersten Jahres braucht, wie übrigens später das Kleinkind, ist eine volle, gefühlsstarke Zuwendung. Liebe und vollwertige Eingliederung in die soziale Gruppe sind als Entwicklungsfaktoren erwiesen, von denen eine starke menschenformende Kraft ausgeht und deren Ausbleiben mit Sicherheit Fehlentwicklung zur Folge hat. Man darf ruhig behaupten, dass Liebe, insbesondere in den ersten Jahren, als ein wägbarer Faktor, als ein Beziehungsglied auftritt, dessen Wirksamkeit sich mit den quantitativen Methoden der Biologie deutlich bestimmen lässt. Wir müssen diese Tatsachen betonen, weil im Zeitalter des Wägens und Messens die Gefahr immer größer wird, dass zwar die Anteile von Fruchtsäften und Milch sorgfältig bestimmt werden, daß man es aber nur zu oft mit der rechten Zuteilung der Zärtlichkeit, mit der <Zufuhr> von Geborgenheit, mit dem Anteil an echter Liebe lange nicht so genau nimmt. Das Ausformen des Lächelns, dieses rätselhaften und wundervollen ersten Sozialkontaktes, ist ein anderes untrügliches Zeichen, aber auch eine unabdingbare Forderung des sozialen Kontaktes.
Wir haben das eigenartige humane Erstjahr als die Zeit des sozialen Mutterschoßes bezeichnet, um im tiefsten Ernst die Rolle der Gruppe als eines zweiten, besonderen Uterus herauszuheben. So wie der Mutterleib durch ein unbewusst arbeitendes System von hoher Ordnung das Werden in der Frühzeit sichert, so muss eine ebenso bedeutungsvolle Entwicklungsarbeit nach der Geburt von der Gruppe geleistet werden. Aber dieser soziale Mutterschoß arbeitet nicht mit der gleichen Sicherheit wie der Mutterleib, denn nur gering sind die erblich gegebenen instinktiven Ordnungen, die uns sagen, was alles zu tun ist, um die rechte Entwicklung zu garantieren. Wirkliche Einsicht in die Bedingungen unseres Aufwachsens muss die fehlenden instinktiven Gewissheiten der tierischen Brutpflege ersetzen. Dies gilt erst recht in einer Zeit, wo die ursprünglicheren Formen des Familienlebens durch die modernen Arbeitsweisen gelockert oder fast ganz aufgehoben sind. Die Orientierung aber, welche die bei uns Menschen so dürftigen ererbten Instinkte ersetzen muss, darf sich nicht auf ein paar Einzelheiten des Stoffwechsels und auf Regeln der Hygiene beschränken. Das ganze Wissen um das, was der Mensch eigentlich ist, muss am Werke sein, wenn die Bedeutung der Gruppe für das Werden eines vollen Menschen gesehen werden soll. Nicht umsonst hat uns ja die Betrachtung unseres Geburtszustandes, der Vergleich von Nesthockern und Nestflüchtern zu einer Besinnung auf die weiteren Wesenszüge des menschlichen Daseins geführt.
Der neugeborene Mensch liegt als einziges Säugerkind auf dem Rücken, Augen und Hände der Welt zugewandt, mit der er sich auseinandersetzen soll. Er blickt als einziges dieser Säugerkinder an der Brust liegend zum Gesicht der Mutter hin; mit der Milch nimmt er auch die wesentlichen Eindrücke auf, welche seinem in offener Form erblich vorgebildeten Sozialsinn die später wirksame Form geben. Wer einmal begonnen hat, die vielen Eigenheiten unseres Geburtszustandes zu ergründen und zu bedenken, der wird auch die Verantwortung der Gesellschaft für die Ausformung jedes neuen Gliedes einer Menschengruppe tiefer erfassen. Wir alle sind aufgerufen, das Werk zur rechten Vollendung zu führen, welches im unbewussten Geschehen der ersten neun Monate unseres Lebens begonnen wird und von dem das Buch, das Geraldine Lux Flanagan uns vorlegt, eine so eindrückliche Kunde gibt.
Adolf Portmann