DIE ERSTEN NEUN MONATE DES LEBENS
Der zweite Monat
In den ersten drei Wochen dieses Monats wird aus dem primitiven Embryo ein wohlproportioniertes Klein-Baby. In seiner siebten Woche weist es die bekannten Züge und alle inneren Organe des künftigen Erwachsenen auf, obgleich es nur etwa zwei Zentimeter groß und ein Gramm schwer ist. Es hat ein menschliches Gesicht mit Augen, Ohren, Nase, Lippen, Zunge und sogar Milchzahnknospen in den Kiefern. Der Körper hat sich schon gerundet, ist mit Muskeln gepolstert und von einer zarten Haut überzogen. Die Arme, nur so groß wie gedruckte Ausrufungszeichen, haben Hände mit Fingern und Daumen. Die langsamer wachsenden Beine haben erkennbare Knie, Knöchel und Zehen.
In der siebten Woche ist der Embryo vollständig. Diese Photographie entspricht etwa dem Siebenfachen der natürlichen Größe. Eine Woche zuvor (siehe nächste Seite) war der Körper noch unvollständig, mit kürzeren Armen und noch unausgebildeten Zehen und Ohren. |
Die sechste Woche. Natürliche Größe. |
Der neue Körper existiert nicht nur, er arbeitet auch. Das Gehirn, in seinen Umrissen bereits dem erwachsenen Gehirn ähnlich, sendet Impulse aus, die die Tätigkeiten der anderen Organe koordinieren. Das Herz schlägt heftig. Der Magen produziert etwas Verdauungssaft. Die Leber erzeugt Blutzellen, und die Nieren extrahieren etwas Harnsäure aus dem Blut. Die Muskeln der Arme und des Körpers können schon bewegt werden.
Wenn der Embryo diese Entwicklungsstufe unversehrt und ohne Beeinträchtigung erreicht hat, sind gute Voraussetzungen für die Weiterentwicklung geschaffen. Im wesentlichen verändert der Körper nur noch seine Dimensionen und die Funktionstüchtigkeit seiner Organe, bis er mit fünfundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren ausgewachsen ist.
Es ist sicher bedauerlich, dass die Existenz des werdenden Individuums in den kritischen Wochen der Heranbildung noch nicht wahrnehmbar ist und oft auch unbemerkt bleibt, und zwar deshalb bedauerlich, weil das neue Leben verletzlich ist wie ein zarter Keimling. In dieser Periode strotzenden Zellwachstums, die für den Aufbau des Körpers erforderlich ist, sind die neuen Zellen besonders empfänglich für alle physikalischen und chemischen Einflüsse, seien es gute oder schlechte. Wenn ein Embryo sich nicht richtig entwickelt, ist die Natur bemüht - so könnte man beschönigend sagen -, den begangenen Irrtum durch eine Fehlgeburt zu beseitigen, oft noch bevor man sich der Schwangerschaft bewusst ist. In der Periode des Zellwachstums können Krankheiten von der Mutter auf den Embryo übertragen werden. Die empfindlichsten Teile des Embryos sind anscheinend diejenigen, die im Augenblick der Infektion gerade am schnellsten wachsen. Aus diesem Grunde kann zum Beispiel das Rötelnvirus in verschiedenen Entwicklungsstadien verschiedene Gewebe des Embryos affizieren. Deshalb sollten Mütter sich in den ersten Schwangerschaftswochen vor Infektionskrankheiten hüten. Sie sollten nach Möglichkeit auch Röntgenbestrahlungen vermeiden, weil man weiß, dass diese Strahlen bis zu dem Embryo vordringen können.
Filmaufnahmen in der siebten Woche lassen die ersten Bewegungen des Embryos erkennen, der jedoch noch so klein ist, dass die Mutter ihn noch nicht spüren kann. Wenn die Oberlippe mit einem feinen Haar berührt wird (1), ziehen sich die großen Rückenmuskeln zusammen und die Arme bewegen sich rückwärts (2). Es kann aber auch sein, dass der ganze Körper sich von dem Reiz durch eine Drehung abwendet (4 u. 5). |
Die große Empfindlichkeit der keimenden Zellen hat vielleicht aber einen bedeutenden biologischen Vorteil: Sie bewirkt nämlich, dass die Zellen auf die Anweisungen der Gene und der anderen Zellen reagieren können. Die Wirksamkeit des Benachrichtigungssystems lässt sich sehr gut an der Entwicklung der Ohren sowie der Hände und Füße demonstrieren. Die beiden Ohren entwickeln sich gleichartig und gleichmäßig. Das gilt auch für die beiden Hände und für die beiden Füße. Außerdem sind bei jedem Embryo, sobald er Ohren, Hände und Füße besitzt, diese auch individuell nach den familiären Anlagen gestaltet. In der siebten Woche haben einige Embryonen größere Ohren als andere, einige haben auffällige Ohrläppchen, andere fast keine. Die Hände und Füße zeigen ihre Individualität hauptsächlich in den Hautlinien der Handflächen und Fußsohlen. Nach dem zweiten Monat sind die Hand- und Fußlinien bereits endgültig ausgeprägt.
Unter der Direktive der Gene entwickeln sich die Formen des Embryos streng individuell, dagegen kommen im Zeitplan der Entwicklung kaum individuelle Abweichungen vor. Der Embryo ist wie ein Uhrwerk. Jeder Teil ist mit jedem anderen genau verzahnt. Jeder entsteht auch in einer festliegenden Zeitfolge. Der Zeitplan für den Aufbau eines Körpers ist im allgemeinen so konstant, dass man für jeden der ersten achtundvierzig Lebenstage den Stand der Entwicklung kalendarisch hat festlegen können. Ein Embryologe kann, wenn er einen Embryo aus dieser Periode vor sich hat, von der Entwicklungsstufe sehr genau auf das Alter schließen.
In der fünften Woche entwickeln sich die Hände aus dem sogenannten «Teller» (oben links), und in der sechsten Woche bilden sich die Finger (oben rechts). In der siebten und achten Woche nimmt der Daumen deutlich Gestalt an, und es entstehen die bleibenden Linien in der Handfläche und an den Fingerkuppen. |
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Nach den Daten des Entwicklungskalendariums wächst der Embryo täglich um einen Millimeter. Aber er wächst nicht gleichmäßig am ganzen Körper, verschiedene Partien wachsen zu verschiedenen Zeiten. Am 30. Tage (oder auch einen Tag früher oder später, entsprechend der Streuung, die allem Lebenden eigen ist) treten die Armknospen als winzige runde Knötchen an den Seiten des Körpers in Erscheinung. Etwa am 31. Tage gliedern sich die Armknospen in Hand-, Arm- und Schulterregionen. Etwa am 33. Tage zeigt die Handregion erste Fingerkonturen. Am gleichen Tage sind die Augen zum ersten Mal dunkel, weil in der Retina gerade Pigment gebildet worden ist. Das Gehirn ist an diesem Tage um ein Viertel größer als zwei Tage zuvor. Nach weiteren zehn Tagen zeigt es schon — in verkleinerter Form - die komplizierte Struktur des voll ausgebildeten Gehirns. Ebenfalls am 33. Tage weisen die weit auseinanderstehenden Nasenlöcher Randwülste auf, aus denen sich Nase und Oberkiefer entwickeln. Vier Tage später, am 37. Tage, zeichnet sich im Profil die Nasenspitze ab. Die beiden Nasenlöcher haben sich einander genähert, und eine voll ausgebildete Nase mit zwei getrennten Luftwegen ist jetzt vorhanden. Am gleichen Tage geht der innere Gehörapparat seiner Vollendung entgegen. Die Augenlider fangen gerade an, sich wallförmig um die Augenränder herumzulegen. Nach einer Woche sind die Augenlider so weit gewachsen, dass sie fast den ganzen Augapfel bedecken. Das ist am 44. Tag. Der Embryo verfügt jetzt über einen richtigen Ober- und Unterkiefer und einen Mund mit Lippen, den Ansätzen zu einer Zunge und den ersten Knospen der zwanzig Milchzähne, die in die Zahnfleischwülste eingebettet sind.
Der Embryo ist nun nicht mehr das fast substanzlose Wesen des ersten Monats. In der sechsten Woche hat er die Anlage zu einem kompletten Skelett bekommen. Das Skelett besteht noch nicht aus Knochen, sondern, wie die Nasenspitze des Erwachsenen, aus Knorpel. Zwischen dem 46. und 48. Tag ersetzen die ersten richtigen Knochenzellen den Knorpel, immer zuerst in den Knochen des Oberarms.
Die Entwicklung der Füße beginnt in der sechsten Woche, also etwa eine Woche später als die der Hände. Die beträchtliche Wachstumsgeschwindigkeit geht aus den Photographien 1-3 sehr deutlich hervor. Nur 48 Stunden Wachstum liegen zwischen den Photographien 1 und 3. Ungefähr 4 Tage später ist die Ferse zu erkennen (3). 5 Tage danach ist die Ferse dann gut ausgebildet (4), und gegen Ende des dritten Monats (5) hat der Fuß bereits dasselbe Aussehen wie bei einem Neugeborenen. |
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Das Erscheinen der ersten Knochenzellen deutet auf die Beendigung der Embryonalperiode hin. Dieses Kriterium ist von den Embryologen gewählt worden, weil die beginnende Knochenbildung zeitlich mit der eigentlichen Fertigstellung des Körpers zusammenfällt. Dem Aufbau der Struktur folgt nun der Aufbau der Funktion. Wenn gegen Ende des zweiten Monats aus dem Embryo (griechisch: schwellen, im Innern keimen) ein Fetus (lateinisch: das Junge, der Nachkomme) geworden ist, kann man schon von einem Baby sprechen.